Einige der vielen Buchbesprechungen aus der Ausgabe Nr. 46


Der alte Mann und das Mädchen


Rezensionen tun oft so, als würde hier ein objektives Urteil vorgetragen, nach immer gültigen Kriterien, losgelöst von Zeit und Umständen, in denen sich der Rezensent befindet. Manche Kritiker geben sich als Mischung zwischen Papst und Scharfrichter. Als besonders krasses Beispiel bleibt mir das Urteil von Iris Radisch über Günther Grass’ Roman „Ein weites Feld“ in Erinnerung, das ich in der „Zeit“ fand: „Dieses Buch ist unlesbar.“ Dabei hatte ich den Roman gerade vorher mit Vergnügen gelesen ...
Warum diese Einleitung? Ich werde jetzt schreiben, dass mir der Roman „Das Große Rendezvous“ von Herbert Asmodi nicht gefallen hat, dass ich ihn belanglos fand. Vielleicht lag das daran, dass ich vorher von Wilhelm Genanzino „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ (interessant, locker, gehaltvoll) und „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (schwieriger, teilweise thematisch verwandt mit Asmodis Roman) gelesen hatte.
Bringt Genanzino präzise beobachtete Einzelheiten, bleibt Asmodi oft pauschal oder, wenn er genau zu werden versucht, auch platt. Die Hauptfigur, ein 60-jähriger Mann, der erst kunstwissenschaftlich gearbeitet hat und dann Glücksmomente aus zahlreichen Affären zu saugen suchte, wird mir nicht plastisch und nicht glaubhaft. Ausgehalten von einer reichen Frau, fischt er bei einer Segeltour ein junges Mädchen aus dem Wasser, das Selbstmord begehen wollte. Am Land verschwindet es, und der Mann sucht wie besessen nach ihm. Als er schließlich wieder auf das Mädchen stößt, gibt er alle Beziehungen auf und fährt mit dem Mädchen davon.
Vorausdeutungen und geheimnisvolle Passagen konnten bei mir keine Spannung erzeugen, ellenlange Monologe eines geschwätzigen Party-Gastes langweilten mich.
Mag sein, dass andere Leser in einer anderen Situation Gefallen an dem Buch finden, für mich war es eine Enttäuschung.


Peter Nieting


Herbert Asmodi: Das Große Rendezvous. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2004, 212 Seiten, 19.80 €, ISBN 3-88221-839-8

 



Das Volk und die Sprache lachen


Eine geraume Zeit lag es auf meinem Schreibtisch, verlockend schön, gleichwohl so respektvoll wie unschlüssig auf Abstand gehalten; ein solides Buch von gediegener Bescheidenheit: Per Højholt „Der Kopf des Poeten“. Eine rundum gelungene Edition der „Straelener Manuskripte“, Gedichte, Essays und eine CD, zweisprachig. Weiß Gott sehens-, hörens- und anfassenswert.
Wer aber ist Per Højholt? Ein dänischer Poet! Na und? Ein Lyriker und Essayist von keineswegs skandinavisch begrenztem Rang! Bin ich der einzige, der sträflicherweise so gut wie nichts von ihm weiß? Dann wird’s allerdings Zeit. Doch ich machte daraufhin einen fundamentalen Fehler; anstatt das Buch, das in unbefingerter Unschuld vor mir lag, einfach aufzuschlagen und zu lesen, schlug ich mich durch einen Wust von Rezensionen, Kommentaren und Interpretationen; klug und beschlagen allesamt, vor allem hintergedankenreich. Ja doch, zweifellos. Am Ende sah ich Per Højholt nur noch in schwachen, fremdartigen Umrissen, dafür um so deutlicher den didaktisch-ultimativen Fingerzweig: ohne Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé, ohne Hugo Friedrichs „Die Struktur der modernen Lyrik“ läuft hier gar nichts! Was für eine Einschüchterung. Ich war drauf und dran, die weiße Fahne zu schwenken. Nach einem bedankenswerten Gespräch mit Fr. Dr. Birkenhauer (Straelener Manuskripte Verlag) fühlte ich jedoch wieder Boden unter den Füßen. Außerdem kam mir ein Photo Per Højholts vor Augen: das verschmitzte, pfiffige, freundlich-offene Gesicht dieses Menschen lacht jedwede Berührungsangst hinweg.
Also fing ich an zu lesen, „unverbildet“, wie man es uns in früher Naivität beigebracht hatte, die Kreuz und die Quer, ungebremst von hermeneutischen Straßensperren. „schnee starrt von den hügeln herab / deine spur ist eine insektenspur auf dem grund einer trockenen welt“ – „wie schwer sich ruhig zu verhalten auf hoher see / wenn man schmetterling ist und wie verlockend“ – „der gutsbesitzer ist im garten, gnädige frau, damit beschäftigt, nach seinen zuckererbsen zu sehen“ – „mit eiern umzugehen ist schwierig“ – „so auf einer nadelspitze gefangen lebte keiner (Hölderlin)“.
Sprühen da nicht zwischen den Wörtern die Funken auf wie Irrlichter auf der Suche nach neuen, vom Leser ins Spiel zu bringenden Wörtern? Højholt, der Wortjongleur und Sprachartist, ermuntert dazu: „Unter allen Umständen wird das Gedicht von einem Leser intellektuelles Eingreifen in Form von ... Mitdenken oder Gegendenken verlangen, ehe das Gedicht ernstlich seine Bedeutungsproduktion beginnt“, der Leser „soll die Bälle der Bedeutungen in der Luft halten.“
Den Platz zwischen Gedicht und fortlaufendem Essay, den die Herausgeber von „Der Kopf des Poeten“ großzügig eingeräumt haben, machte ich mir zunutze. Was mir, dem mitwirkenden Leser, durch den Kopf ging, notierte ich – mit weichem Bleistift, jederzeit spurlos auszuradieren – spontan und ohne Scheu vor allzu Weithergeholtem oder allzu Nahem. Ist Højholt in Dänemark nicht darum so populär, weil er immer wieder tief in den Boden der Alltagssprache greift? Weil er Humor und Witz nicht aus der Familie der „tiefen Gedanken“ ausschließt?
Was bleibt mir noch zu sagen? Vieles und wiederum nichts; denn jeder Satz bleibt dürftig im Vergleich mit dem, was Højholt geschrieben hat.
Seine Gedichte und Essays sind „unfertig“; sie wollen von dem, der sich mit ihnen einlässt, lustvoll weiterproduziert werden. „Das Volk und die Sprache lachen.“ Ich komme an kein Ende damit. Kann man Freundlicheres über Gedichte sagen?
Im Oktober 2004 ist Per Højholt im Alter von 76 Jahren gestorben. Seiner Stimme sollten wir weiterhin lauschen, seine Gedichte und Essays lesen.
Wer Lust hat auf intellektuelle Abenteuer und poetische Überraschungen, der wird auf jeder Seite des schönen Buches „Der Kopf des Poeten“ fündig werden.


Herbert Sleegers


Per Højholt „Der Kopf des Poeten“, Gedichte, Essays und eine CD, zweisprachig. Straelener Manuskripte, 144 S., Ln. in Schuber, 29.- €, ISBN 3-89107-045-4
 




Die vierte Reise des Columbus


Die letzte Reise des Christoph Columbus, ja, die hat mich schon seit jeher interessiert, und so habe ich mit Neugier die 477 Seiten des Buches über diese Reise begonnen. Doch sogleich fing mein Ärger an. Fünf aufeinander folgende Satzanfänge: „Dann war …“, „Dann ging …“, „Dann hatte …“, „Und dann zog …“, „Und seine Frau …“ (S. 12). Vielleicht ein Stilmittel? Aber erst die Doppel-„Danns“: „Taucht man dann …, dann entdeckt …“, „Taucht man dann …, dann sieht …“, „Und wenn man dann …, dann …“ (alle S. 27). Das Lesen wird zur Qual. Da schreiben zwei Journalisten im – leider übertriebenen – SPIEGEL-Stil, haben viel (und Wichtiges) recherchiert und graben sich durch europäische und amerikanische Archive, fügen zahlreiche Interviews, u. a. mit Wissenschaftlern ein – es geht aber leider nicht nur um die letzte Reise, sondern sie haben allzu viel in das Buch hineingepackt und in ihm ausgebreitet (bis hin zu den Wikingern). Dabei springt das Geschehen zwischen der Gegenwart und dem Damals hin und her, sicher ein Kunstgriff, der hätte gelingen können, wäre er literarisch nicht so übertrieben populär-wissenschaftlich zurechtgeschrieben. Dabei ist die eigentliche Reise höchst bemerkenswert und menschlich-tragisch, und die Teile des Buches, in denen diese beschrieben wird, sind deutlich besser verfasst als viele der übrigen Teile. Ach, hätte ich nur diese Reise als reines Sachbuch von ca. 250 Seiten lesen können – ich hätte eine andere Besprechung schreiben können.


Marijke van Korkerken


Klaus Brinkbäumer / Clemens Höges: Die letzte Reise. Der Fall Christoph Columbus. DVA, München 2004, 477 S., 19.90 €, ISBN 3-421-05823-7
 




Berührendes von den letzten Wochen der Kindheit

„Junges Licht“ – ein wunderbarer Roman


Ralf Rothmann schildert einige Wochen aus dem Leben des fast dreizehnjährigen Julian, in denen der Junge eine Entwicklung erlebt, die ihn die Mächtigkeit von Erotik und Sexualität erahnen lässt. Julian lebt – es ist die Zeit der frühen 60er Jahre – in einer Bergmannsfamilie im Ruhrpott, der Gegend, in der der Autor aufgewachsen ist und deren Menschen er bereits in einigen Büchern warmherzig beschrieben hat. Der sensible Junge, gepeinigt von Nachbarskindern, verprügelt von Mutter und Lehrer, bedrängt vom Hausbesitzer und verlockt von der in der Hausgemeinschaft lebenden 15jährigen Marusha – das wird mit einer geradezu traumhaft sicheren Kunstfertigkeit berührend und fern jeden Kitsches erzählt. Der Vater besucht eines Tages zusammen mit Julian und Marusha einen Kumpel, es wird Alkohol getrunken und Marusha spielt für alle Drei ihre Verführungskünste aus. In der Nacht – Mutter und Schwester sind zur Erholung an der See – erlebt Julian, wie sein Vater aus Marushas Zimmer kommt. (Der Fehltritt zeitigt noch für die Familie Folgen.) Niemand unter den zeitgenössischen Autoren vermag die Verwirrung der Gefühle Jugendlicher in der Pubertät so zu beschreiben wie Ralf Rothmann. Szenen wie die, wo Julian den unwilligen Priester zur Beichtabnahme drängt und in der Beichte versucht, die Schuld des Vaters zu beichten, werden beim Leser in der Erinnerung verankert bleiben. Man möchte gern noch lange weiterlesen.


Erik Martin
 

Ralf Rothmann: Junges Licht. Roman. Suhrkamp, Frankfurt 2004. 236 S., 19,80 €, ISBN 3-518-41640-5

 



Haitianische Identitätssuche


Haiti 1934, die amerikanischen Besatzer verlassen das Land. Aufbruchsstimmung und ein euphorisches Gefühl der Freiheit bewegt die haitianische Bevölkerung. Künstler, Intellektuelle, Schriftsteller aus aller Welt, kamen oder schauten damals in der Überzeugung nach Haiti, hier schlüge der Puls der Zeit anders. Doch im Januar 1946 reißt eine Militärjunta die Macht an sich und vernichtet damit auch diesen Traum.
Haiti 1942. Bereits auf der dritten Seite von Yannick Lahens Roman stockt mir der Atem, als das im Garten tanzende, zwölfjährige Mädchen Alice von ihrem Vater geohrfeigt wird. Sie tanzte Vaudou. Dieses Bild ist der Mittelpunkt. (…) Es vereint in sich, was vorher war, und beleuchtet, was künftig sein wird. Meine Freundschaften, meine Liebschaften, meine Erwartungen und mein Leid, alles wird sich in seinem Licht oder in seinem Schatten abspielen.
Alice Bienaimé, behütete Tochter aus haitianischem Mittelstand, soll die afrokaribischen Wurzeln ihrer Kultur verleugnen. Ihr Vorbild hat die Kultur und die Religion der Weißen zu sein. Und wenn sie sich die Nase klammert, damit sie schön schlank wird, wie ihr die Haushälterin Man Bo erklärt, wird sie vielleicht sogar einen Weißen heiraten und sozial aufsteigen. Ihre Eltern setzen zudem auf Bildung. Tanz der Ahnen ist ein von Jutta Himmelreich exzellent übersetzter Roman über die Zerrissenheit und Identitätssuche einer Nation – und der Protagonistin Alice. Alice tanzt sich in ihre Freiheit hinaus und wird im traditionellen Tanz ihre kulturelle Identität finden.
Der erste Roman der Literaturwissenschaftlerin Yannick Lahens zeichnet sich durch meisterhafte Sprache aus, ihre Personen, mit wenigen Worten skizziert, kommen sofort als lebendige Menschen auf uns zu.


Vera Hesse
 

Yanick Lahens: Tanz der Ahnen, Rotpunktverlag, Zürich 2004, 160 S., 17.- €, ISBN 3-85869-271-9
 




Lachhaft: Hannah


Hörbücher leben vom Text und davon, wie er vorgetragen wird. Um mit dem Zweiten zu beginnen: Ich habe Armin Mueller-Stahl, der seinen Roman „Hannah“ selbst vorliest, gern zugehört. Die Art, wie er den Text vorträgt, ist passabel. (An mehreren Stellen hört man am anderen Klang der Stimme, dass er den Text zu einem späteren Zeitpunkt weiter gelesen hat, das müsste sich vermeiden lassen.)
Dass der Text aber wichtiger ist als der Vortrag, wurde mir bei diesem Hörbuch deutlich: Ich fand ihn schlecht. Ein Ich-Erzähler berichtet über ein Treffen mit einem Freund, bei dem er weitgehend monologisierend seine Sicht über ihre Beziehung und über Hannah erzählt. Hannah gilt als Tochter des Erzählers, wurde aber von dessen Freund gezeugt. Sie war eine begnadete Geigerin, und der Erzähler geht immer wieder interpretierend auf von ihr gespielte Stücke ein. Über die Qualität dieser Aussagen, maße ich mir kein Urteil an. Aber das, was sonst erzählt wird, ist oft schlechterdings platt. Kommentare zum Kosovo-Krieg, Aussagen zu zwischenmenschlichen Verhaltensweisen oder die Schilderung der Gesprächssituation waren oft von der Art, dass ich beim Hören laut aufgestöhnt oder sogar aufgelacht habe.
Das Ganze ist dazu arg konstruiert: Der Freund, obwohl oft angegriffen oder gefragt, hört überwiegend stumm zu und darf höchstens einmal aufstehen und sich zum Fenster wenden. Erst am Schluss sagt er einige Sätze zu den Vorwürfen. Nein, mir hat das Hörbuch ganz und gar nicht gefallen. Anspruchslosen Hörern mag es anders gehen, denn der Text wird – wie gesagt – annehmbar vorgetragen.
 

Peter Nieting
 

Armin Mueller-Stahl: Hannah. Gelesen vom Autor. Der Audio-Verlag, Berlin 2004, 3CDs, ca. 195 Minuten Laufzeit, 22,95 €, ISBN 3-89813-295-1

Geschmacklose Mixtur

 

Ein Zitat zuerst: „Viele meiner Gedanken drehen sich noch heute um seine Person, wenn überhaupt von meinen Gedanken die Rede sein kann; sie stellen sich einfach ein, in Wellen, eine wiederkehrende Flut, die mich fortreißt wie das Verlangen nach Tizia, als gehörte ich gar nicht mir selbst, ja unterläge, von Welle zu Welle, nur ihrer Zeit und nicht meiner, so wie das Land, auch wenn die Uhren dort schlagen, dem Meer erliegt, das alle Zeiten der Welt hat.“ Bei solchen gewollt tiefsinnigen Sätzen am Anfang von Bodo Kirchhoffs Roman „Wo das Meer beginnt“ habe ich Mühe weiterzulesen. Dennoch: Trotz seiner nicht nur sprachlichen Schwächen übt der Roman einen gewissen Sog aus, in den der Leser geraten kann.

Der 30-jährige Erzähler erinnert sich daran, wie er kurz vor dem Abitur im Keller der Schule eine Mitschülerin geliebt hat und dabei überrascht wurde.. Es kam zu einer Konferenz, die über seinen Schulverweis beriet. Ein Lehrer erzählte ihm damals zu Hause ausführlich von dieser Konferenz, von ihrem Inhalt, dem Verhalten der beteiligten Lehrer bei der Konferenz und von deren Beziehungen zueinander.

Etwa die Hälfte des Romans machen schriftliche Aufzeichnungen des Lehrers darüber aus, die der Erzähler durchliest. Es geht um Liebe, Sex, Eifersucht und Verantwortung. Der Erzähler ergänzt das durch die Wiedergabe von Ergebnissen der Hirnforschung, die er sich angelesen hat.

Obwohl sich der Roman realistisch gibt, ist er für mich in vieler Hinsicht unwahrscheinlich. (Der Lehrer möchte den genauen Hergang des Geschehens vom Schüler wissen, lässt ihn aber bei zahlreichen Gesprächen gar nicht zu Wort kommen, er referiert stattdessen dem Schüler das offizielle Konferenzprotokoll, in dem Mimik und Gestik der Konferenzteilnehmer aufgenommen sind, beim Suizid des Lehrers schaut der Schüler tatenlos zu, ...) Zeitbezüge (Golfkrieg, Selbsttötung  Jürgen Möllemanns) und genaue Ortsangaben (Frankfurt, Lissabon), wirken aufgesetzt. Die Zeichnung der Lehrerfiguren soll wohl komisch sein, meist sind es aber lediglich klischeehafte Parodien (z. B. der schöne, eitle, etwas dumme Sportlehrer).

Ich finde den Roman unausgegoren und wüsste niemanden, dem ich das Buch empfehlen könnte.

                                                                                Peter Nieting

 

Bodo Kirchhoff: Wo das Meer beginnt. Frankfurter Verlagsanstalt,

Frankfurt 2004. 308 S., 19.80 €, ISBN 3-627-00115-x


(Die Kirchhoff-Besprechung steht, bedingt durch ein Versehen, nicht in der Printausgabe.)
 

 

 

 

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